„Früher war alles besser“, ist eine so gerne wie oft benutzte Redewendung. Es stimmt nicht, früher war nicht alles besser. Punkt. Aber dennoch gibt es in uns allen den verklärten Blick auf die Vergangenheit. Denn es ist die vergangene Zeit, auf die wir gerne und vor allen Dingen wohlwollend zurückdenken.
Je nach Lebensalter gab es zwar damals kein fließendes warmes Wasser, keinen Farbfernseher und noch ein Wählscheibentelefon, aber dafür waren wir jünger. Hätten wir damals den heutigen Erfahrungsschatz gehabt, dann wäre in der Tat einiges besser gewesen. Und ein weiterer Aspekt führt zu dieser Meinung: Früher hatte man mehr Zeit. Es gab geregelte Arbeits- und Freizeit und beide Bereiche wurden sorgsam voneinander getrennt. Heute zerfließen zunehmend die Grenzen, und wenn wir dann mal Zeit haben, fordern uns die sozialen Medien dazu auf, uns eben mit ihnen und nicht mit sinnvolleren Dingen zu beschäftigen. Heute muss alles in Echtzeit passieren. Es scheint, als lebten wir permanent in der Gegenwart, gehetzt von den Anforderungen des Alltags. Aber, so merken wir schon bei diesem flüchtigen Blick zurück, die Zeit läuft. Manchmal fühlt es sich so an, als liefe sie an uns vorbei. Und erst ein Blick auf Kinder, die in aller Ruhe in ein Spiel vertieft sind, zeigt uns, dass man sich einfach Zeit nehmen muss, um sie genießen zu können. Schon erkennen wir das Paradox der Zeit: Zeit hat man nur, wenn man sie sich nimmt. Die bewusste Entscheidung, andere Dinge ruhen zu lassen, versetzt uns erst in die Lage, unsere Aufmerksamkeit auf eine Sache zu lenken.
Effizienz ist oftmals nicht nur schlicht notwendig, sondern darüber hinaus auch sinnvoll und gut. Aber sie benötigt auch ihren Gegenspieler, die Muse, um uns nicht völlig zu vereinnahmen. Manches Mal muss man die Zeit für sich arbeiten lassen. Dies gilt auch für die Küche. Auch hier soll effektiv gearbeitet und keine Zeit verschwendet werden. Sowohl Kochbücher als auch die Werbung für Fertigprodukte versprechen gelingsichere Rezepte und Gerichte in wenigen Minuten. Dabei basiert Kochen auf anderen als nur zeitsparenden Konzepten. Kochen ist geprägt – wenn man so will – durch das perfekt ausbalancierte Spiel mit der Zeit oder und gegen sie.
Reifezeiten
Doch was uns beim Wein selbstverständlich ist – ihn in Ruhe im Keller zur Vollmundigkeit reifen zu lassen – erscheint uns bei gekochten Gerichten aus dem Blick geraten zu sein. Und das ist eine direkte Folge des zunehmenden Verharrens in der Gegenwart. Alles ist immer und zu jeder Zeit verfügbar. Wir wissen um den Wohlgeschmack eines gereiften Schinkens und eines alten Parmesans, natürlich kaufen wir sie schon in diesem Zustand ein. Aber auch Tee, Pfeffer, Vanille und andere begehrte Produkte unseres täglichen Bedarfs erlangen ihre faszinierende geschmackliche Vielschichtigkeit erst durch Fermentationsprozesse, die sich über einen langen Zeitraum erstreckenden. Vielleicht ist gerade deshalb seit einigen Jahren ein Trend entstanden, in den Küchen selbst Fermente anzusetzen. Nicht in erster Linie, um die Grundprodukte auf klassische Weise lagerfähig zu halten, sondern um die auf diesem Wege gewonnene aromatische Vielschichtigkeit und so neue Nuancen auf den Tellern zu gewinnen. Ganz abgesehen davon, dass so beim Essen Assoziationen an eine vergangene Zeit und an Omas selbstgemachtes Sauerkraut geweckt werden.
Wohlgeschmack
Dabei gab es früher wirklich etwas, das besser war: Man ließ in der Küche den Faktor Zeit nicht außer Acht, sondern machte ihn sich bewusst zunutze. Soßen, Fonds und alle Formen von Fermentationsprodukten benötigen Zeit. Und erst mit der Zeit kann der Geschmack reifen, an Vollmundigkeit und Vielschichtigkeit gewinnen. Nicht nur den Dingen sollten wir ihre Zeit zur Reife gönnen. Auch wir selbst sollten immer mal wieder aus dem gleichförmigen Tritt des Alltags ausscheren, um sie zu genießen, die Zeit. Und ihren Geschmack. Es verhält sich mit Saucen wie mit gereiftem Käse. Lässt man die Zeit einfach vergehen, entstehen Aromen, die einen Geschmack gewähren, der eben nicht alltäglich ist.
Und es ist das, was wir in unterschiedlichsten kulinarischen Zubereitungsarten gerne genießen, und es ist das, was uns entspannen lässt: Der Geschmack von Zeit.